Derrida

Jacques Derridas Semiosophie


Zum Begriff der Präsenz bei Jacques Derrida (2001)


Sie scheinen mir hier etwas denken zu wollen, das kein Gedanke ist; einen Sprung ins Leere zu thun, dahin uns die Vernunft nicht folgen kann. Sie wollen sich etwas denken, das vor allem Denken vorhergehet, und also dem allervollkommensten Verstande selbst nicht denkbar seyn kann.

Moses Mendelssohn, An die Freunde Lessings (1785)

 

Der einheitliche, universelle materielle Zusammenhang aller Dinge und Erscheinungen der Wirklichkeit existiert nur als universeller, räumlich und zeitlich unbegrenzter Wirkungs- und Entwicklungszusammenhang aller Dinge und Erscheinungen.

Philosophisches Wörterbuch (Leipzig 1975)

 

Jacques Derridas Begriff der différance umfaßt zwei Ebenen/Dimensionen. Zum einen wirke sie als meta- oder ultra-ontologische Kraft (force différentielle), die das, was ist, hervorbringe. Zum anderen (spezifischer) als meta- oder ultra-semiotische Bewegung, die die Artikulation von Sprache und Schrift ermögliche. Als meta- bzw. ultra-semiotische Bewegung lasse die différance Zeichen sich in/mit einem ursprunglosen, nicht-teleologischen, unendlichen Prozeß fortwährend wechselseitig substituieren, diesseits einer de-zentrierten Struktur, die kein Außerhalb besitze (diesseits eines Textes, der keine vor- oder außersemiotische Dimension habe). Zeichen flottieren, ohne jemals, wie Derrida betont, auf ein transzendentales Signifikat (signifié transcendental) zu treffen: auf einen ersten und/oder letzten Sinn, der dem Strom der Signifikanten vorausliege oder Einhalt gebiete. Die différance ent-falte Sinn und Bewegung, ohne auf etwas zu referieren, das selbst nicht zeichenhaft sei. Sinn und Bedeutung seien buchstäblich Oberflächen-Effekte, hervorgebracht von der selbstreferenziellen Kombinatorik der Signifikanten.


Was die différance als meta- oder ultra-ontologische Kraft angeht, so gelte, daß sie alles Seiende hervorbringe und strukturiere, ohne selbst hervorgebracht und ontologisch Teil der Wirklichkeitswelt zu sein. Präsenz – extramental/empirisch: die raum-zeitliche Anwesenseit/Gegenwart von etwas, intramental/psychisch: Selbstgegenwart – sei immer und ausschließlich sekundär, weil das Seiende (wie auch auf der meta- oder ultra-semiotischen Ebene die Zeichen, die es bezeichnen) sich einer Ur-Schrift (archi-écriture) verdanke. Derridas Gedanke lautet in Kürze: Das, was ist, das Seiende, ist nur als Spur gegeben. Etwas Seiendes besitzt keine eigene, sozusagen primäre Präsenz, weil sein Sein (seine Objektivität, seine Gegenwärtigkeit) in nichts anderem und durch nichts anderes besteht als in seiner und durch seine Differenz zu anderem Seienden. Das, was es ist, ist es nur durch das, was es nicht ist. Sein Sein als Seiendes (als etwas, das ist) ist gleichsam geborgt oder eben: sekundär. Différence meint genau dies: daß etwas niemals isoliert oder präsentisch existiert, sondern immer das Produkt einer meta- bzw. ultra-ontologischen Produktion von Differenzen ist.


Derridas différance-Begriff überzeugt in dem Maße, wie es zutrifft, daß das Ersetzen einer Sache durch Zeichen die empirische Präsenz der Sache selbst zugunsten der Iterabilität der Zeichen – d. h.: ihrer kontextunabhängigen Wiederholbarkeit – verschwinden macht. Die Präsenz der Zeichen ist trügerisch, da sie nur in einem und durch ein System unendlicher semiotischer Differenzen existieren. Sekundär (abgeleitet, geborgt) ist ebenfalls die Präsenz der Intelligibilität: die Präsenz von etwas als etwas Bestimmtem (als einem bestimmten Etwas) im Bewußtsein. Etwas als etwas wissen, also etwas (wieder)erkennen, heißt seine Bedeutung verstehen. Bedeutung aber wird durch Zeichen vermittelt, und Zeichen sind nun einmal nicht präsentisch. Sinn und Bedeutung (Intelligibilität) gibt es nur, weil Zeichen nicht präsentisch, sondern sekundär sind. Die Bedeutung von etwas im Bewußtsein, im einsamen Seelenleben (Husserl) ist zeichenhaft und zeichenbedingt. Wenn Bedeutung das ist, worauf alle jederzeit Bezug nehmen können, dann gibt es sie nur sub specie semiotica. Bedeutung ist unendlich wiederholbar (iterabel), weil sie intelligibel ist, und intelligibel ist sie, weil sie zeichenhaft und zeichenbedingt ist. Im Gegensatz zum empirisch Seienden, das in Raum und Zeit erscheint und endlich, begrenzt ist, ist Bedeutung unendlich, unbegrenzt.


Wenn man, wie Derrida, Präsenz als Anwesenheit von Bedeutung im Bewußtsein versteht, als Modus, worin bzw. wodurch Bedeutung als sie selbst erfahrbar wird (als scheinbar zeitlos-wesentlich), dann ist Präsenz immer schon sekundär. Dies deshalb, weil Bedeutung das Produkt einer grenzenlosen Iterierbarkeit ist, weil es Bedeutung ohne Zeichen, die per Definition immer für etwas anderes stehen (also nicht präsentisch sind), nicht gäbe. Wenn man, wie Derrida, mit Gegenstand, Objekt, Ding, Sache nicht die sozusagen rohe Materialität, das physische So-und-nicht-anders-Sein eines realen Etwas meint, sondern vielmehr und ausschließlich die intelligible Bedeutung, die ein Etwas besitzt oder annimmt, dann gilt, daß es nichts Nichtzeichenhaftes geben kann. Dann, und nur dann, kann man sagen, Seiendes sei immer zeichenhaft und also nicht präsentisch


Zusammengenommen: Wenn man mit Derrida unter Präsenz die scheinbar unmittelbare Anwesenheit einer intelligiblen Bedeutung versteht (genauer: die scheinbar unmittelbare Anwesenheit einer Sache im Bewußtsein, die sich nur über diese ihre intelligible Bedeutung erschließt), dann, und nur dann, gilt, daß Präsenz immer sekundär ist. (Die Präsenz der Bedeutung ist sekundär, weil zeichenvermittelt.) Wenn man mit Derrida unter Präsenz jene Bedeutung einer Sache meint, die im Akt des Sprechens als Ineinsfallen von Sagen-Wollen und Sagen erlebt wird (also Bedeutung als scheinbare Unmittelbarkeit in dem Maß, wie sich der Sprecher als Urheber des Gesagten und dessen innere Präsenz als Präsenz eines scheinbar unmittelbaren Sagen-Wollens wahrnimmt), dann, und nur dann, trifft zu, daß diese Präsenz täuscht und in Wirklichkeit sekundär ist.


Als problematisch und widersprüchlich erweisen sich Derridas Konzept der différance und seine Aussage, Präsenz sei IMMER sekundär, dort, wo er sich auf die ontologische Ebene begibt (d. h.: immer dann, wenn er von der différence als einer meta- oder ultra-ontologischen force différentielle spricht). Ist auch die physische Präsenz eines realen Etwas bereits sekundär, seine rohe Materialität, sein raum-zeitliches So-und-nicht-anders-Sein? Ist nicht nur die Präsenz von Sinn und Bedeutung sekundär, sondern schon die materielle, stoffliche Präsenz von etwas/eines Etwas? Klar ist, daß extramentale/empirische Etwasse nicht erst in dem Augenblick entstehen, in dem wir sie bezeichnen bzw. semiotisch codieren.


Es nicht falsch zu sagen, etwas existiere als ein bestimmtes Etwas erst dann, wenn es eine iterable Bedeutung besitzt, und daß in dem Augenblick, in dem es bezeichnet bzw. semiotisch codiert worden ist, von Präsenz keine Rede mehr sein könne. Derrida verwendet den Terminus Präsenz in genau und nur in diesem Sinn: im Hinblick auf eine scheinbar unmittelbare Präsenz des Signifikats im Bewußtsein (als scheinbar unmittelbares Zur-Anwesenheit-Bringen eines scheinbar unberührten und unberührbaren Ursprungs aller Bedeutungen, als scheinbar ursprüngliches Bei-sich-Sein des denkenden Bewußtseins, als scheinbar unbedingte Anwesenheit als Anwesenheit bei sich usf.). Was Derrida ausklammert – und er gibt dies offen zu (s. und vgl.: Positions. Entretien avec Jean-Louis Houdebine et Guy Scarpetta, in: Positions, Paris 1972, S. 52–125; ebd., S. 82–91 [dt.: Positionen, in: Positionen, Wien 1986, S. 83–176; ebd., S. 121–132]) –, ist die Materialität dessen, was ist und erst im und durch den Prozeß der differänziellen Semiotisierung seine gleichsam primäre Präsenz verliert.


Derrida bleibt sub specie philosophiae immer auf der Ebene der idealen, intelligiblen Bedeutungen (der Ebene einer scheinbar absoluten Gewißheit im Bewußtsein, wo inhaltliche Bestimmungen den Sinn des Seienden konstituieren), und er ignoriert den Bereich der Materie/Materialität vor bzw. jenseits ihrer semiotischen Anverwandlung: den Bereich dessen, was zunächst nur da ist, eine gleichsam primäre Präsenz besitzt. (Was voraussetzt, daß es diesen Bereich, eine vor- oder außersemiotische Sphäre, gibt.) Das Vor- oder Außersemiotische verliert seine Präsentizität in dem Moment, wo das semiotische Netz ausgeworfen und eingeholt wird. Nun lautet Derridas Argumentation, daß schon Materie/Materialität von der und durch die différence strukturiert sei. Das, was ist, gehe aus ihrer Spur hervor (die sich selbst nur insofern manifestiere, als sie sich entberge, etwas ent-falte). Derrida umschreibt die différence in diesem Kontext als meta- oder ultra-ontologische Kraft (vgl. oben), – die er von der intramentalen, semiotischen Bewußtseins- und Bedeutungsspur der différence unterscheidet. Im Fall der différence als meta- oder ultra-ontologischer Kraft ist das Seiende gewissermaßen deren ontologisches Produkt (das dann semiotisiert und einer idealen Bedeutung teilhaftig wird). Im zweiten Fall wirkt die différence als eine intramentale Strukturierung, die die Daten der Wahrnehmung semiotisch differänziert. Im ersten Fall geht es nicht um die intelligible, intellektuelle Präsenz einer Sache im Bewußtsein, sondern um das quasi-transzendentale Moment der differänziellen Ent-Faltung des Seienden. Daß die Möglichkeitsbedingung des empirisch Seienden die différence sei, leuchtet ein, denn etwas ist nur insofern, als es etwas anderes nicht ist. Das, was ist, hat eine differäntielle Genese. Die Präsenz eines Etwas verdankt sich der Präsenz eines anderen Etwas (der Präsenz von etwas anderem). Aus diesem Zusammenhang zwischen einer Präsenz und einer anderen Präsenz (oder einer Absenz) erklärt sich die je einmalige Präsenzhaftigkeit eines Etwas.


Freilich: Weil Derrida bereits die sinnliche Beschaffenheit, das So-und-nicht-anders-Sein von Etwassen oder Diesheiten als zeichenhaft, ihre Präsenz als sekundär betrachtet, vermischt er unzulässigerweise Semiotik und Ontologie (d. h.: er ontologisiert Semiotik und semiotisiert Ontologie). Da Zeichen keine empirischen Objekte sind und sie ihre Idealität, Identität, Bedeutung usf. dem Umstand verdanken, auf anderes zu verweisen, kann man im Hinblick auf die empirische Präsenz von Etwassen oder Diesheiten aus den genannten Gründen wohl von einer differänziellen Kontamination sprechen, nicht aber davon, daß es sich ab ovo um Zeichen handle. Jedes Zeichen bzw. jede Zeichen-Präsenz ist differäntiell, aber Differänz bzw. Präsenz ist nicht immer zeichenhaft.


Erst das intelligibel Seiende bedarf der Vermittlung durch Zeichen; erst auf der Stufe der Intelligibilität ist Präsenz semiotisch durchdrungen, also sekundär. Derrida kritisiert zu Recht die metaphysische Vorstellung einer reinen Präsenz von Bedeutung im Bewußtsein, und er zeigt, daß und wie Sinn und Bedeutung Produkte einer différence sind, die als systematisches Spiel von Differenzen keines ihrer (semiotischen) Elemente für sich selbst präsent sein läßt. JEDER Sinn und JEDE Bedeutung konstituiert sich aus der Spur, die die différence zieht.

 

Was Derrida ausklammert: Selbst wenn zutrifft, daß bereits die vor- oder außersprachliche Welt der Dinge differänziell ist, so folgt daraus nicht, daß ihre empirische Präsenz sekundär sei. Die ontologische, stoffliche Rohheit eines Etwas ist nicht präsent in dem Sinn, daß es nur auf dem Hintergrund und im Zusammenhang einer iterablen Bedeutungspräsenz da ist. Die stoffliche Materialität eines Etwas ist, was sie ist; sie zeichnet sich aus durch Ontizität, nicht durch Semiotizität. Sie ist präsentisch in dem Maße, wie sie (noch) nicht Teil einer semiotisierten Wirklichkeit ist. Es leuchtet nicht ein, warum die stoffliche Präsenz von etwas diesseits seiner Mundanität sekundär sein soll. Sekundär in Bezug worauf? In Bezug auf stoffliche Präsenzen anderer Etwasse? Das ist die differäntielle Beziehung, die zwischen ihnen besteht. Sekundär wäre die Existenz eines Etwas dann, wenn sie nachträglich wäre, also nur als Möglichkeit bestünde. Die reale, stoffliche Präsenz von etwas ist aber ein gleichsam rohes Vorhandensein: ein Daß-Sein.


Das philosophische Problem besteht darin, daß Derrida, vor dem Hintergrund der metaphysischen Tradition, Präsenz und Substanz ineinssetzt. Indem er die Onto-Theo-Logie der Metaphysik dekonstruiert (also auf ihre inneren Widersprüche hin durchleuchtet), macht er deutlich, daß ein Subjekt, das sich denkend auf sich selbst bezieht (das Denken denkt) und so die Präsenz oder eben Substanz seiner selbst zu finden meint, in Wirklichkeit nur einer sekundären Bedeutungspräsenz innewird, weil die différence die Möglichkeitsbedingung jedes bedeutungsvollen Auf-sich-selbst-Beziehens ist. Das metaphysische Subjekt sucht reflexiv (s)einen präsentischen Wesenskern und findet in Wirklichkeit nur sekundäre Sinn- und Bedeutungsspuren der différence. Präsenz bedeutet jedoch nicht immer und ausschließlich Substanz. Es gibt auch eine Präsenz des bloßen Daß-Seins. Sekundär ist Präsenz, wenn sie als intelligible Bedeutung bestimmt wird. Davon zu unterscheiden ist Präsenz als Bezeichnung für das je spezifische, empirische Da-sein eines Etwas. Warum sollte das, was materiell gegeben ist, schon vor jedem Bedeuten/jeder Bedeutung (s)einer Sekundarität anheimgefallen sein? Weil Anwesenheit Abwesenheit impliziert? Das ist kein hinreichender Grund. Derrida versteht die Welt als Zeichen-Universum, als ursprunglosen Text ohne Außen. Welt verwandelt sich erst in dem Augenblick in ein Gewebe oder Geflecht semiotischer Spuren, in dem man die Ebene der Perzeption(en) verläßt. An sich verweisen Dinge nur auf sich selbst. Dinge sind von sich aus keine Zeichen. Wären Dinge ab ovo zeichenhaft, hingen Zeichen von einer innerweltlichen Materialität ab. Aber gerade das Moment der Immaterialität sei es ja, so Derrida, das Zeichen zu Zeichen mache.



Share by: